Porträt 2
Hans J. Eisel - November 2011
Norbert Sternmut: Eindrücke und Gedanken zu einem Dichter
Angeblich leben wir im Land der Dichter und Denker. Tatsächlich merkt man wenig davon. Zwar gibt es zahlreiche Autoren, die Gedichte schreiben und sich darüber austauschen, aber das Lesepublikum bleibt meist außen vor. Daran ändert auch das digitale Zeitalter wenig, das jedem Zugang zur literarisch interessierten Öffentlichkeit verschafft. Mag sein, dass dadurch ein Flohmarkt der Beliebigkeit entsteht, der nicht jedem gefällt. Es fällt jedenfalls auf, dass ambitionierte Autoren sich im Internet bei offenen Foren merklich zurückhalten und nach wie vor auf literarische Verlage setzen, die ihre gedruckten Bücher den Lesern anbieten. Das wirkt merkwürdig konservativ und schafft eine Brücke zur altehrwürdigen Tradition, die inzwischen nur noch ein Nischendasein fristet. Wer kennt sie schon, die Klassiker, deren Werke in unverkäuflichen Gesamtausgaben sich in staubigen Regalen stapeln? Paul Celan ist so einer. Er gehört zur deutschsprachigen Lyriklandschaft, die sich nach dem 2ten Weltkrieg bildet. Und das wegen seiner Herkunft, seinem Stil, seinem Anliegen, denn er und seine Familie gehören zu den Opfern der Nazidiktatur. Er will solche Erfahrungen zur Sprache bringen, die sich gegen die Mitteilbarkeit sperren, nicht nur, weil viele gar nicht darüber sprechen wollen. Wie bequem ist die Verdrängung, wie naheliegend die Ausreden und wie üblich die Lügen. Die Mehrzahl seiner Zeitgenossen hatten sich arrangiert, im angeblichen „inneren Exil" gelebt, wo sie ausharrten gegenüber einer Ideologie, die sie angeblich immer abgelehnt hatten, geräuschlos, denn erkennbarer Widerstand wäre gefährlich gewesen. Vielleicht gab es sie wirklich.
Celan gilt als schwierig, obwohl er mit gängigen Worten arbeitet, die er zu neuen Getümen zusammenschweißt. Diese Fügungen sollen bisher Unausgesprochenes sagbar machen. Dabei streift der Dichter an das Schweigen, das nach Ludwig Wittgenstein dem Nichtsagbaren vorbehalten bleibt. Mit den Worten Gadamers:" In seinen späten Gedichtbänden nähert sich Paul Celan mehr und mehr der atemlosen Stille des Verstummens im kryptisch gewordenen Wort." (S.9)
Aber was es nicht geben kann, ist ein schweigender Dichter. Celan, gegen den es immer schon starke Vorbehalte gibt, (be)gründet keine poetische Tradition. Zu einzelgängerisch verschließt sich dieses Werk dem Publikum und jedes Gedicht macht deutlich, welch ein schwieriges Geschäft doch das Lesen ist.
Man kann von diesen Gedichten ergriffen sein, auch ohne sie zu verstehen.
Mir geht es dabei manchmal wie einem Kind, das mit der Familie am Tisch sitzt und fühlt, dass die Dinge, die da besprochen werden, von großer Bedeutung sind. Das gilt vor allem für traurige Anlässe.
Spontan stellt sich das Gespür ein: diese Verse reden zu mir über unsere Angelegenheiten. Hier wird etwas Wichtiges, ja Dringliches besprochen. Am Rande vermerkt: N. Sternmut äußerte im Gespräch, er habe beim Lesen der „Sprachgitter" so gut wie nichts kapiert und doch verstanden, dass es um was Entscheidendes geht. Vielleicht versteht man diese
Sprache, indem man sie nicht versteht. Das klingt gewagt, weil es die Tür zum beliebigen Unsinn mehr als einen Spalt breit öffnet und dem Interpretationswischiwaschi das Wort redet. (Überhaupt Interpretationen von Gedichten, was da für ein idiotisches Geraune seine Heimat findet, erregte Erstaunen, wenn es jemanden interessieren würde.)
Hier könnte es stimmen.
Viele Gedichte Celans sind recht kurz und sagen mit alltäglichen Worten Ungewohntes, befremdlich, bei näherem Lesen kühn, immer jedoch gewagt.
Dieses Konzept benutzt auch Sternmut. Er lässt sich von Celan, der keine Schule gebildet hat (wie auch ?) inspirieren. Wichtig dabei ist Genauigkeit bis in die Einzelheiten. Dadurch wird der Phantasie des Lesers Platz geschaffen für Assoziationen. So entsteht die beabsichtigte Flaschenpost, oder sind es nicht doch eher Fesselballons ? Dem Wind vertrauen und sich
treiben lassen.
Ein guter Gedichtband gleicht einer Fundgrube, die man neugierig durchkramt auf der Suche nach Kostbarkeiten. Nur wenige gehen dabei systematisch vor. Das Blättern in einem Gedichtband ähnelt eher einem Stadtbummel als einer Führung. Das passt auch insofern, als das Motiv des Vor-dem-Schaufenster-Stehens mehrfach auftaucht. Wie Celan verzichtet er auf Reime und die Musikalität rhythmischer Verse. Seine Gedichte wirken eher wie Bilder oder Photos.
Arthur Rimbaud - ihm widmet Sternmut das erste Gedicht des Bandes „Spiegelschrift" „Mein Rimbaud" - lässt mich ratlos zurück. Die geheimnisvoll anmutenden Metaphern führen mich nicht zu dem stürmischen jungen Dichter, der sich als Abenteurer zu Fuß auf die Reise
nach Afrika begibt und von der Poesie löst.
Der Bogen spannt sich zu Goethes Haus in Weimar am „Frauenplan" (S.31). Es ist die Rede vom Stuhl, Tisch und Bett des Dramatikers und Dichters und den Pflasterstein, über den er einst schritt. Kein Wort zur Antikensammlung, zum Luxus, den Goethe genossen hat. Das stattliche Anwesen, die herrschaftliche Kutsche. All dies repräsentiert den hohen gesellschaftlichen Rang des geheimen Rats, der von seinem Freund, dem Herzog, geadelt zu den vornehmsten und exklusivsten Kreisen Weimars gehört. Immerhin heiratet er die gar nicht standesgemäße Christiane, die bis zu ihrem Tod bei und mit ihm wohnt. Kein Wort zum berühmten Gartenhäuschen!
Stattdessen endet das Gedicht mit einem originellen Kalauer.
„Mein Hof (S. 9) erinnert in der Schlichtheit des Aufzählstils an „Inventur „ von G. Eich. Hier wie dort zieht das lyrische Ich ein Fazit:" Hier der Abfall, mein Hirn,/ Es denkt, hier..."
Unser Spaziergang geht weiter, wir lassen uns treiben und betrachten, was uns beim Blättern auffällt.
„Reklame" (S. 12)
Ist das klischeehaft, pathetisch ? Ein schwächeres Gedicht ?
Schnell weiter.
Geldspiegelung (S. 14)
Das Ich spiegelt sich in den Schaufensterscheiben, die das Glück des Besitzes ausstellen, die aufdringliche Welt des Konsums. Geldverlust bedeutet Ich -Verlust, denn was bleibt vom Ich übrig, das kein Geld hat in einer Gesellschaft, der Ver - Käuflichkeit alles bedeutet ? Alles hat seinen Preis, der gilt für die Solventen, die Reichen. Geld ist der Wert, Wert an sich, das absolute Gute, der Maßstab, der für alle und alles gilt. Mein Gott, ich komme ins Schwärmen. Cut!
Sisyphos (S.42)
Von Albert Camus stammt der Gedanke, Sisyphos müsse als glücklicher Mensch gedacht werden. Das soll provozieren, ist eine eigensinnige Auslegung des Mythos vom verdammten Menschen, der den Stein den Berg hinaufrollt und dann zusieht, wie er hinunterpurzelt, um anschließend seine Arbeit erneut zu verrichten. Sternmut knüpft an diesen Gedanken an und spricht Sisyphos Mut zu, bestärkt ihn. Was bedeutet es, sein eigener Herr zu sein, der selbstbestimmt lebt, ohne Sinn ? Wer kann an sich glauben, und wie kann er das, ohne sich zu irgendetwas in Beziehung zu setzen, das nicht absurd ist ?
Anders gesagt: das Absurde ist nicht authentisch, sondern lediglich eine parasitäre Übergangsphilosophie, die sich vom Aas überlebter Überzeugungen nährt. Das Tragische an Sisyphos mag gerade darin bestehen, dass er nicht (mehr) tragisch ist. Vielleicht passt das Absurde besser zu unserer Zeit als alles andere. Das liegt aber in erster Linie daran, dass es uns so leicht fällt wider besseres Wissen zu leben und zu handeln. Die Werbung verführt uns mit
der läppischen Illusion, dass uns der Konsum glücklich macht. Einfach so, Anerkennung aufgrund unserer Markenartikel. Dabei funktioniert die Masche gerade deshalb, weil sie jeder durchschaut. Also: das Uneigentliche als unser Element. Nein, keine Ironie mehr, schon gar keine Parodie, denn dazu fehlt das Original, der eigentliche Bezugspunkt. So leben wir in einer Gesellschaft hohler Phrasen und leerer Versprechungen, deren Profitgier sich als Lebensfreude ausgibt. Dahinter lauert ein in Watte gebauschter Nihilismus. Und so wird Sisyphos zum absurden Helden unserer Epoche. Dagegen wirken die Ideale Don Quijotes geradezu klassisch. Hilfe !
Amoklauf (S.46)
beschreibt, was bei uns und mit uns passiert, wenn es zum Blutbad kommt.
Wie reagiere ich auf die Nachricht eines Massakers ? Regungslos,
wortverlegen, beschämt durch die als unpassend empfundenen
Bewältigungsrituale. Daraufgehen die Verse nicht ein. Sternmut
beschreibt, was vorgeht. Hier zeigt sich die Stärke seiner Methode, die ihn
schützt vor hohlen Phrasen. Ein starkes Gedicht.
Wieder taucht das Motiv des Schaufensters auf. Einfache Worte für
unbeschreibliche Vorgänge. Am Schluss gibt es so etwas wie ein Fazit, das
Raum lässt, aber wofür ?
Analytisch (S.65)
Das merkwürdige Gedicht zerfällt in 2 Teile. Was macht das Gefühl -anstelle des erwarteten Fragezeichens ein Punkt. Dann das berühmte Zitat von Erich Fried über die Liebe im Zentrum und der Rest dann in Klammern. Ein schönes Liebesgedicht, das anknüpft an die geniale Einfachheit Frieds. Nur die Liebe erträgt das, was ist, wie es ist. Siegfried Kracauer schrieb einst sinngemäß an Ernst Bloch, er schätze dessen Fähigkeit, den Dingen, die er analysiere, ihr Geheimnis zu lassen.
So auch hier.
Fels in der Brandung (S.80)
„Auch er schwankt" - die Neugier ist erweckt. Der Stein wird der Rolle nicht gerecht, die ihm zugemutet wird. So ist es, auch wenn wir sehr weit vom nächsten Meer entfernt wohnen, und ich die Zeile „Auch er wird geschmiedet" nicht verstehe. Das Gedicht entlarvt die Redewendung als Vorurteil, verkehrt sie ins Gegenteil. Lyrische Sprachkritik am passenden Beispiel !
In „Gedicht im Spiegel" (S .91)
variiert mit seiner Anspielung auf den Titel des Buches. Nach einem Reifeprozess, dessen Spuren man im Spiegel („Nase und Mund") begutachten kann, ist das Gedicht reif („hinreichend gealtert") für den "Band und kann der Lesewelt übergeben werden. Der Vergleich mit einem Winzer, der seinen Wein abfüllt und dem Urteil der Kenner und Genießer übergibt, reicht hier nicht. Das Gedicht entspricht dem Gesicht und steht „für die Vorstellung, die sich freigibt". Reimlos. Soweit erste Eindrücke und Gedanken zu „Spiegelschrift", ein Gedichtband, in dem ich gerne blättere.
Vor mir liegt „Nachtlichter", 2010 auch im Ludwigsburger Pop- Verlag erschienen und „Wildwechselzeit - Tagebuch einer Beziehung", 2011 im Wiesenburg Verlag in Schweinfurt erschienen und Christoph Schlingensief gewidmet.
Im Gedicht „Schlingen, sief' (Nachtlichter, S. 86) sinnt Sternmut dem Inhalt und Klang dieses Namens nach und verknüpft ihn mit der Überlegung „ So schön wie hier kanns im Himmel/ Gar nicht sein, sagtest du...", die Schlingensief kurz vor seinem Tod äußerte. Fast scheint es, als wolle er überprüfen, ob die nominalistische Theorie, wonach Namen nur Schall und Rauch seien, nicht doch irrt. Was verraten unsere Namen über uns ? Lassen sie sich austauschen ? Damit kann sich jemand, der sich Sternmut nennt, nicht abfinden. Fast scheint es, als würde der mittelalterliche Realienstreit wieder belebt, der im Mittelpunkt der scholastischen Philosophie steht.
Bemerkenswert und tröstlich schließt das schöne Buch. Nach dem traurigen, ja trostlosen „Herzgras, darüber" (S. 97), versöhnen „Eine Krume Licht" (S. 98) (wunderschön, unbedingt lesen !) und das „Endgedicht", eine Hymne auf die Liebe.
Karl-Heinz Schreiber, der als bekennender Fan dieses Dichters und dessen „Edelrezensent" seine Arbeiten seit Jahren liest und kommentiert, bezeichnet „Wildwechselzeit" als sein wichtigstes Buch. Dabei handelt es sich um Tagebuchaufzeichnungen, die im Verlauf eines Jahres eine Verortung des Selbst im Gefühlsdschungel der Gegenwart versuchen. Ein düsteres Buch, das in die Abgründe von Krankheit, Sexualität, Beziehungen von Mann und Frau, Selbstzweifeln und Lebensgier hineinschaut. Aber das sind Phrasen, mit denen ich meine Verunsicherung kaschieren möchte. Alles liest sich anstrengend, nichts wirkt selbstverständlich, leicht, angenehm. Hier führt die Literatur hin zu unseren Problemen, angereichert durch Zitate von Dichtern und Denkern, aber ungefiltert. Können die bildhaften Metaphern uns emporheben, so treibt uns diese Prosa unerbittlich ins Dickicht des Alltags. Sternmut sucht sich selbst, und indem er darüber schreibt, schreibt er über uns. Das liest sich wie eine erneute Bestätigung des Satzes von Rimbaud: ich ist ein anderer. Ja doch, möchte ich abwinken, all das ist bekannt. Identität ist halt auch nichts anderes als eine Konstruktion, meinetwegen eine Illusion, die von der zeitgenössischen Literatur längst bearbeitet ist bis zum Überdruss. Die Mehrzahl der Romane trieft geradezu von diesen Problemen. Vielleicht macht sie das so austauschbar, so beliebig, oft langweilig. „Einmalig wie wir alle" (Peter Rühmkorf) strampeln sie sich ab im Hamsterrad der Selbstfindung.
Einige noch unveröffentlichte Gedichte von Norbert Sternmut gehen ins Abstrakte und stellen grundsätzliche Fragen. Gibt es abstrakte Gedichte und welche Verbindlichkeit haben sie, da sie eindeutige Aussagen ( mehrdeutige sowieso) verweigern und sich dem Verständnis entziehen ? Schon die einzelnen Worte, oft Neuschöpfungen, sperren sich und gehen doch Verbindungen ein, wecken Eindrücke. Was geht hier vor ? Ein Experiment - wie verlorene Nussschalen schwimmen diese Verse im unendlichen Meer der Kommunikation.
Oder sind es Monologe von jemanden, der eine Privatsprache erfindet, die es nach Ludwig Wittgenstein gar nicht gibt ? Abstrakte Kunst - worin liegt ihre Bedeutung, was schafft ihren ästhetischen Wert ? In der Malerei gelingt der Durchbruch nach dem 1. Weltkrieg. Nur noch Farben und Formen zählen, die Autonomie des Materials triumphiert und löst sich vom Anspruch des Abbiidens. Sogar die Photographie folgt diesem Trend, den nicht alle mitgehen. Auch Dichter benutzen Worte, manche sogar einzelne Buchstaben als Bausteine neuer Gebilde, so etwa der Lettrismus. Dabei entstehen teils recht witzige Werke, insgesamt führt der Versuch in eine sterile künstlerische Sackgasse. Und das trotz (oder wegen ?) Ernst Jandls. Norbert Sternmut probiert einen anderen Weg. Er erfindet neue Wörter und setzt sie aus in die Wildnis der Syntax, ganz so, wie man es mit Tieren macht, die ausgewildert werden. Sie sollen sich in ihrer Umgebung alleine zurecht finden. Mit einem Sensor ausgestattet, läßt sich ihr Weg verfolgen und neue Erkenntnisse über sie gewinnen. Vielleicht eignet sich die Methode mehr zu erfahren, was es auf sich hat mit der Sprache und dem Verstehen.
Man darf gespannt sein, wie es weitergeht.
Aus "Am Zeitstrand - Literarischer Rundbrief"
von
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