Übersicht
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Leserrezension zu „Marlies“ Roman- Sylvias Art
Das Gegenüber im Fixierbad- Michael Matzer
Ein Krimi der Extraklasse- Alfred Büngen
Marlies- Daniela Wegert
Marlies ist wieder da!- Rezension von Alisha Bionda
Rezension einer Leserin zu "Marlies" - M. Wegscheider
Von Normans Spielfeld und Marlies, der Hexe- Michael Matzer
Carpe com- Michael Matzer
Das Gegenüber im Fixierbad
Michael Matzer © 2003ff
Info: Edition Thaleia, 1997, Saarbrücken;
121 Seiten, ISBN 3-924944-36-9
Norbert Sternmut: PHOTOfinish.
Gedichte
Der Titel ist Programm: "Photofinish" gibt den Erfahrungsbereich, aus dem die Metaphern der meisten hier gesammelten Gedichte kommen, vor: die Fotografie.
Telescop, Camera obscura, Fixierbad, Abbild, Momentaufnahme, Photogen, Aktphoto, Schwarzweiß – die Liste dieser der Fotografie entlehnten Überschriften ist schier unbegrenzt und macht deutlich, wie sehr das Medium der Fotografie unsere Wahrnehmung durchdrungen hat.
Doch die Reibungsfläche, an der sich unsere so geformte Wahrnehmung entzündet, ist keineswegs beliebig. Die Sterne bedeuten uns nichts, wenn sie fotografiert werden. Es muss ein Du geben, das dem Moment der Wahrnehmung (Aufnahme) Bedeutung verleiht. Es muss ein Du geben, das überhaupt ein lohnenswertes Motiv liefert. Und es gibt ein Du, das dem eigenen Leben eine Art Stativ verleihen kann. Das geliebte Du.
Doch Menschen-Fotografie bedeutet auch Unsicherheit durch Vermitteltheit: das Medium stellt Abstand zum Original her, verwandelt Realität in Abbild, in Kunst. Diese wiederum ist beliebig reproduzierbar, und das Motiv wird ent-wertet, da beliebig manipulierbar, eine Ware. Doch Waren haben ihren zeitbegrenzten Wert: auf einer Titelseite, die Wünsche abdruckt und Illusionen – das Image als Opfer der Rotationsmaschinen. Nun wird der Original-Augenblick kost-bar.
Andere Gedichte greifen das Thema Lied auf: Abendlied, Weihnachtslied, Altes Lied. Erinnerungen an Rilke (wer jetzt kein Zuhause hat... in "Vorabend") werden wach und variiert. Viele Gedichte versuchen die Ver-Ortung des Ich im Universum (Sterne, Galaxien), in der Region (Schwanensee), in der nächsten Umgebung (Reihengräber in "Dichter Nebel"). Doch wo kein Du zu finden ist, herrschen Bilder Einsamkeit, des Alleinsein vor: Nebel, Nacht, Verlust-Erscheinungen wie "wort-, bedeutungs-, spur-los" usw.
"Reim dich, oder ich fress dich"? Nicht bei Norbert Sternmut. Seine Verse sind kurze, oftmals ge- und zerstückelte Satzfragmente. Der Leser muss selbst zusammenfügen, was sich ihm als Baukasten darbietet. Auffallend wenige Eigenprägungen sind zu finden: Rotationselend, Grundsatzidylle, Sonnenstrände. Der Text "Unterwegs" ist da eine positive Ausnahme:
Unterwegs //
Seelenzangen / ins Gelände gequält.//
Brunnenschutt, du sollst / vergessen sein.//
Augenfalle, geheim, / herzleise abgeblüht /
im Schnee davon//
Erzählt ein Aschenrund.//
Kein Kreis von unten her, / der dich nimmt / ins Gestänge, aufspult / auf eine Rolle.//
Rastflucht, / Flächen weithin, Stimmen, / Fassaden, / Sprache unterwegs / ein Sehnsuchtsfalter.//
Von oben her kein Sonnenlaken, / das dich bedeckt / mit Sicherheit / abgesternt / der menschlichen Wunde, / unterwegs auf dem Weisheitsweg, / Holz.
(Alle Zeilenanfänge werden groß ge-schrieben.)
Mein Eindruck
Norbert Sternmuts Gedichtband "Photofinish" schneidet ein wichtiges Thema an: Fotografie begegnet uns heute so allgegenwärtig, dass wir sie und ihren Einfluss für selbst-
verständlich zu halten geneigt sind. Die Macht der Gewohnheit, die normative Kraft des Faktischen. Das war vor 125 Jahren noch nicht so. Fotografie war etwas Teures und Kostbares, den wohlhabenden Ständen vorbehalten. Erst ab 1900 kamen die großen Zeitungen auf, mit neuen Reproduktions-
techniken fanden Fotos große Verbreitung. Die Wahrnehmung veränderte sich, die Kunst musste folgen, und Walter Benjamin konnte seinen großen Essay "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner Reproduzierbarkeit" schreiben.
Heute ist die Fotografie personalisiert, persönlich geworden, und jederzeit verfügbar, ähnlich wie die genaue Uhrzeit. Dies hat Folgen für die Wahrnehmung und Bewahrung von Sinneseindrücken: Realität festzuhalten wird nicht mehr nur eine Sache des biologischen Erinnerungsvermögens und der individualisierten Weitergabe – sie ist normiert, standardisiert, reproduzierbar, verkommt zur Ware mit Verfallsdatum.
Sternmut untersucht in einigen seiner Texte, wie sich das Paradigma der Fotografie auf die Begegnung mit einem geliebten, emotional nahen Gegenüber auswirkt. Er kommt zum Schluss, dass der Mensch standhält, ja, dem Betrachter selbst einen Halt in der Realität vermittelt. Während das technisch erstellte Abbild nur zeitweiligen Wert besitzt, ist die Nähe zum Du unverzichtbar, weil konstitutiv für das Ich des Betrachters. Wäre das Gegenüber zugleich auch Gegenstand der Fotografie, handelte es sich um ein Modell. Und das wäre etwas ganz anderes.
Der Autor
Norbert Sternmut (= Norbert Schmid), geboren 1958, lebt in Asperg bei Stuttgart und arbeitet als Pädagoge. Er veröffentlichte seit 1980 zahlreiche Lyrikbände, Dramen und Kurzprosa. Mehr Infos gibt's auf seiner Website www.sternmut.de.
Unterm Strich
Sternmut greift in "PhotoFinish" ein wichtiges Thema der Ästhetik und Wahrnehmung auf, ortet Ich und Du in einem so definierten Paradigma. Seine Ergebnisse sind interessant. Lediglich die sprachliche Eigenständigkeit könnte größer sein. Eigene Prägungen wie in "Unterwegs" sind zu selten. Und so fand denn auch dieser Lyrikband nur geringe Resonanz in der Presse und beim Publikum. Was durchaus schade ist.