Norbert Sternmut - Lesung bei den „Wortwelten Ludwigsburg“
am 13. Oktober 2024 zum Thema „Augenblicke des Wandels“
Aus dem Gedichtband „AUGEN UND STEINE“ 1985
BILD
Ein rostendes Blatt
Faltig rötlich gelb
Die Sonne schimmert
In Regentropfen
Darauf
Aus dem Gedichtband „LICHTPAUSEN“ 1994
LICHT IN VENEDIG
So begreife jemand Venedig
Im Wasser.
(Du musst es selbst tun…)
Die Pfähle ohne Stütze,
Wer sieht sie sinkend
In einen Schlamm?
Ich sage nicht; ich sah
Einen Halt im Wasser, ein Geflimmer
Für den Tod,
Gondeln nicht,
Aber Trauer. Sie spiegelt sich
Versonnen
Den Lüften und Schächten,
Fragen, auch dort,
Wo ich war. Ich sehe es genau:
Ich war nie in Venedig.
WECHSEL
Des Scheins in den Gärten.
Hiermit beende ich
Den Tag,
Nehme die Hand
Aus den Fallgruben.
Es war ein Tag am See.
Du hieltst einen Stein hoch,
Standst vor den Brunnen
Mit der Wasserhand
Der einen Erkenntnis.
Es war ein Wasser im Winter.
Du sagtest:
Du musst dich bewegen, Wasser,
Sonst stirbst du
Im Winter.
Aus dem Gedichtband „PHOTOFINISH“ 1997
SOFORTBILD
Deine Beine, sofort,
Wie sie gehen
Über Treppen, deine Augen,
Hier, sofort,
Das Bild deiner Augen.
Sie schauen, sofort,
Sehen in eine Landschaft, sofort
Entsteht ein Bild.
Aus der Gleichzeitigkeit
Der Erscheinungen
In alle Himmelsrichtungen
Verteilt, wird
Sofort gelebt,
Sofort geliebt
Gestrebt, sofort
Gelitten, geglaubt,
Gekämpft, geschaut,
Wird sofort
Gestorben,
Ein Bild gemacht,
Ein Sofortbild.
Aus dem Gedichtband „ABSOLUT,DU“ 1998
FRÜHLINGSGEFÜHLE
Krokusse,
Auflauerndes Grün,
Hormoneller Aufwärtstrend. Es sieht
Gut aus, wie Perspektiven
Aus den Startlöchern
Tritt die Jugend
Auf in neuem Gewand, frisch
Die Landschaft gestrichen,
Wie runderneuert,
Die Mädchenbeine
Gehen durch Gedanken
Alter Hasen.
Irrt der Winter
Aus dem letzten Loch,
Flattern die Röckchen leichter,
Denkt sich insgeheim
Jeder seinen Teil.
Spreizt die Landschaft
Ihre Hecken, tritt
Der Blütenmangel zurück.
Frühlingsbeine, angewuchert
Aus möglichen Gefühlen,
Massenware, Offenheit
In den Köpfen,
Erwachen.
Aus dem Gedichtband „VERFRÜHTES AUSLÖSEN DES ZEITRAFFERS“ 1995
SCHNEE IN ATHEN
Weiß,
Wie Tanker trieben
Auf die Küste,
Schwer beladen
Mit der Zeit,
Nicht absehbar, Öl
Überschwemmte
Den Strand.
Was verbrennt
Geht in die Luft,
Ändert das Klima,
Die Atmosphäre.
Wie der Kreis
Verläuft, die Gestalt
Verunstaltet,
Die Kette reißt,
Fällt
Aus den Nachrichten.
Heute fiel Schnee
Auf die Akropolis.
Aus dem Gedichtband „WINTERDIENST“ 2020
SCHATTENKIND
Eine Wolke verwischt wie Rauch
aufsteigt an den Rand gesetzt
ein Kind ein zarter Hauch
beschattet früh verletzt
die Stille geatmet bleibt
abgestempelt im Kern
der Schatten einverleibt
in der Dunkelheit fern
ein Kind in der Quere
in den Schatten gedrückt
gebückt von der Schwere
dem Selbst entrückt
Aus dem Gedichtband „PFEILSCHRIFT“ 2015
ANKER
Werf den Anker in dich,
tanzt der Kobold leicht
in deinem Gesicht,
der Mondschein
auf deinen süßen Wangen.
Werf den Anker in dich,
durch die Ferne gerollt,
umringt von Schmerz
kam ich schwer
in den Hafen der Stunde.
Werf den Anker in dich,
bin bei dir, bleib,
bleib im Lichtsplitter
dir, tausendfach
erhalten im Wort.
FLUCHTPUNKT
Im Herzgras, schmiegsam
am Morgen flieht der Atem
aus der Nähe wie ein Reh
am Waldrand, am Punkt,
das Gesagte, der steinerne Ton,
das fremde Ruderblatt,
wenn Gewitter droht
rudert es zurück
in die Wunde.
SCHLAFWANDEL
Du fehlst, fern ist das Aug
in der Kühle, atmen
allein die Steine, besiegt
mich die Nacht zuletzt im Schlaf
wandle ich ohne dich
schwer durch die Gänge.
Das spärliche Licht aus der Kerze
erlischt in der Stunde
vor Mitternacht, der Geist
mit dem Nachtwind wandelt
als Sehnsucht in den Gängen,
löscht alle Rufe aus.
Aus dem Gedichtband „SCHATTENPALAVER“ 2012
ES GESCHIEHT UNS
In einem Takt
Der Note,
Dem Gesetz,
Im Abschaum,
Auf dem Gleis,
Geschieht uns
Vor den Schaufenstern,
Im Spiegelbild der Fratze,
Der Habgier,
Der Geschäfte,
Geschieht uns Recht.
KEIMLING
Aus Kriegen entwachsen,
Blühte der Löwenzahn
Aus den Feldern des Todes,
Ein Keimling, wieder.
Aus dem Gedichtband „NACHTLICHTER“ 2010
GAST, FLÜCHTIG
Als gehörte uns das Wort, das wir sprechen,
Im Sommer des Lippenspiels,
Gehörte uns das Haus über uns,
Das Dach und das Fenster,
Gehörte uns die Dunstglocke, die wir schaffen,
Der Landstrich, das Waldgebiet,
Gehörte uns der Wagen vor der Tür,
Das Kind, das wir schaukeln,
Gast des Wasserfalls, flüchtig.
Lebendig eingesetzt unter die Lebenden
Des Seins, zwischen hier und niemand,
Blühen auf, blühen aus
Mit der Schippe in der Hand,
Dem Staubfaden der Vorstellung.
Aus dem Gedichtband „ATEMECHO“ 2016
ATEMECHO
An deiner Haut lichtet es
die Wunde der Jahre,
wölbt sich die Stille
ins Auge des Sturms, geborgen
sind die Töne, Stimmen,
jedes einzelne Haar
wird von Freude gewaschen,
jeder Atemstoß
fällt aus Liebe zurück
von der Bergwand.
Aus dem Gedichtband „NACHBRENNER“ 2013
IM WIND
Reitet die Sekunde der Wahrnehmung,
fliegt dein Haar,
entfernt sich mein Mund
vom Mund, den ich küsste.
Wo du bist, war ich
an die Zeitschiene gefesselt,
blieb in deinem Fang.
Auf dem Feld stand
Die geöffnete Muschel.
VERWENDUNG DER ZEIT
Der umschiffbare Herzknoten
aus den Wer da? – Rufen
zur wärmenden Bestimmung.
Die Verzweiflung
zum vielseeligen Fadenschrei.
Die Bosheit im Aug
zur freigeschaufelten Freundschaft,
Gastlichkeit des Gefühls,
Verwendung der Zeit.
Aus dem Gedichtband „SONNWEND“ 2014
GEH DEINE STUNDE
Mit den wilden Rosen,
düster, hell, ein Haar
in niemandes Hand.
Gewachsen reden wir leicht
vom Windröschen des Wegs,
mit uns und den anderen,
überlassen uns der Zeit.
Du fragst, wie es geht!
Ich sage, geh
deinen Weg und die Stunde darin.
FALTENSTIRN
In der Kühle, ein Schleier
bin ich im Augenblick
des kühlen Herzschlags
weit von dir,
abgrundtief voneinander,
bestimmt in den Fluten
der Leidenschaft, verborgen
hinter den Stirnen,
im Namen der Stunde,
die uns verwirft.
Von weit her
Brennen die Lichter der Stunde
hinter der Faltenstirn.
Aus dem Gedichtband „STRAHLENSATZ“ 2018
IM PARK
Im schwankenden Traum
glitzert das Aug,
im schwirrenden Raum, berührt
von zarten Händen
eng geführt, ein Stern,
leuchtend auf der Bank
im Park, ein stummer
Dank, dass ich begreife
Maß und Los,
und reife
in deinen Schoß.
DIE KATZE
In der Sonne,
still versunken, bedenkt
keine Sekunde,
hier und jetzt, die Katze
sorgt sich nicht
um den Schnee
vom vergangenen Jahr,
den Weltfrieden
der Zukunft, spielt
mit den Schatten, weiß
nichts vom Sturm
hinter der Sonne,
vom Wellengang
der Schwerkraft, weiß
nichts vom Tod.
SONNENWERK
Traumdurchflutet, der Tag
Zählt uns zusammen
die Stunden rinnen
aus feinem Sand.
Du bildest dich, liest
aus meinem Aug, bist am Werk,
am Körper, bist
was du erkennst, suchst
den Schlüssel
zu deinem Innern, bist
eine Sonnenblume,
Herzkirsche, im Vertrauen
Ein strahlender Feuerkreisel,
ein Sommerfest, bist
was du suchst,
die Suchende in der Sonne.
TIEFGANG
Auf der Suche
Deine weißschimmernde Haut
schwebt über das Wasser.
Wir sind bei uns
angekommen, anders
als wir waren, ehemals
im Keim erstickt, tauchen
wir aus den Samen
hinab, die Träne springt
uns voraus in die Tiefe.
Der hinterste Stern
empfängt seinen Namen.
LEITSTRAHL
Wie es steht im Wellengang,
was wurde dir verwehrt, wem
dienst du im Chorgesang,
in welches Netz verfangen,
wohin in welches Verlangen,
welches Gedankenspiel,
allein zu welchem Ziel
treibt dich der Schein,
der dich umschleicht,
umnachtet erreicht,
dich leitet, wohin geblendet,
glaubst du, woran,
auf der Suche, wenn
der Blick sich wendet, dann,
wenn das Ende endet.
WANDERLIED
Von Mund zu Mund, zur Welt,
übers Dorngebüsch kommst du
noch so tief zu Fall,
wo das Niemandslied zerfällt
musst du dich erheben
über die Zitterpappel der Plage,
wandre weiter
ohne Klage, splittert
aus dem Spiegel
die verlässliche Verzweiflung,
sammle neue Kraft und wage
deinen eigenen Gesang,
es beginnt und vergeht,
versinkt und entsteht
dein eigener Klang.
LUNGENFISCH
In der Trockenzeit vergraben
im sandigen Flussbett
unter Schlammschichten,
lungenstarr,
in der Wüste gewartet
auf die Rückkehr des Wassers:
mit der Gewitterfront
nach trocknen Jahren
floss Wasser durch den Herzstein
und wir fuhren
unsere Flossen aus.
MANDELKERN
Der alte Brandgeruch
steigt ins Hirn, die Angst
fährt unter die Haut,
stößt sich wund
bis zum Kern.
Massenhaft:
der Rückschritt
ist keine Alternative.
Das Kahlgeschorne
half niemand
auf beiden Seiten
des Zauns,
des Gitters,
der Mauer,
das Kahlgeschorne
hilft niemand.
Aus dem Gedichtband „FADENWÜRDE“ 2007
BRAUNAU (2.Fassung)
Fassaden im Palmpark,
alte Mauern,
im Gasthaus zum Schiff
ganztags warme Küche,
die Weltkugel
am Fischbrunnen schwankt,
über alten Häuserfronten
ertönen plötzlich Sirenen,
erschrecken die Glieder,
werden alte Bilder wach:
bleibt die Gefahr
in Köpfe gebannt,
ist nichts gesichert
in den Hirnen,
läutet der Glockenturm
der Trauer, der Mahnstein
steht aus Granit
aus dem Steinbruch,
Menschenbruch
Mauthausen.
Aus dem Gedichtband „SEELENMASCHINE“ 2006
BUCHENWALD
Am Hang. Begraut grünt die Stätte
Der Verzweiflung am Menschen, vogelfrei
Auf dem Karachoweg…der Koch
Ging durch seinen Rosengarten…
Und die Rosen bluteten und Grauen
Blühte und Verachtung stachelte auf…
Der Mensch: stand dabei. Stapelte hoch
Die Leichenberge…die Leichenträger
Trugen die Leichen aus den Kellern…
Die Leichen: Namenlos, benummert.
(„Niemand nahm Abschied,
Niemand errichtete ein Kreuz oder einen Stein
Doch ihr lebt
Solange Menschen sich eurer erinnern“)
Die Stimmen…die Blutstrasse, ein Steinbruch…
Das menschliche…in der Mitte: ein Casino…
Ein süßlicher Geruch aus den Schornsteinen
Stieg empor in die Lüfte…
„Singende Pferde“ fielen. Es wurde: gestorben
Und: gestorben. Weithin wütete
Der Tod in Menschengestalt,
Waren es Menschen, die Menschen töteten,
Sind es Menschen,
Die Menschen töten, waren es…Menschen.
In Buchenwald. Die Gegenwart,
Die Zukunft der Gedenkstätten, die Asche
Im Wind, die Geschichte, sie weht…
Aus dem Gedichtband „SPIEGELSCHRIFT“ 2011
MUTMACHUNG
Im Schneeschatten des Seinsgletschers,
Aufgeben, nie!
Am Berg und in der Wüste!
Weiter! Gehen, denken,
Stur, meinetwegen herzzerreißend,
Ins Atemholen
Der Mitochondrien.
Flattern, hören, sehen,
Aufstehen, wieder,
Am Tag und in der Nacht
In eine neue Runde
Gehen, tanzen, kämpfen.
Aus dem Gedichtband „IN HUNDERT JAHREN“ 1985
WANDLUNG
Ein fremder Maler malt dir ins Hirn,
Mit dunklen Farben in einer Hand,
Ein Bild von der Welt und auf die Stirn
Hat die Natur das Zeichen gebrannt.
Die Welt ringt um Form und klare Konturen.
Das Bild verwischt, wird neu begonnen.
Hinter den Stirnen verwischen die Spuren
Der alten Motive aus Schatten und Sonnen.
Das Halbe zum Ganzen treibt die Wandlung.
Im Flimmern der Augen, in fließenden Tönen,
reiht sich ein Motiv aus Farbe und Handlung
Zum Bild, zum Leben, Zum Hässlichen, Schönen.
Die Sinne gehen dir über fremde Paletten
Mit schnellem Strich. Ein Augenblick,
Schon liegt die Welt in Bildern, Ketten
Und löst sich wieder und fließt zurück.
Der Sand in den Augen von Wanderdünen
Raubt alle Ruhe dem Lauf der Uhren.
Das Spiel der Farben auf fremden Bühnen
Verwischt den Sand, bald alle Spuren.
Aus dem Gedichtband „SPACHSCHATTEN“ 1989
HERBST, IMPERATIV
Lasst den Herbst beginnen,
Er braucht
Die kälteren Tage. Streut
Die Blätter aus,
Rostbraun, rot, nehmt
Die Tränen aus dem Nebel.
Streicht die Wege
Mit Kerzenwachs, die Halme
Mit Tau, setzt
Den Wind in die Kronen,
Fallen die Blätter
Leichter zur Erde.
Blast dem Sturm
Entgegen mit feurigem
Gleichmut, heizt ein
In den Herzen, haltet euch
In den Seilen
Der längeren Nacht.